II. Todsünde - Gula
May. 13th, 2009 11:48 am![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
Prolog - Dante
Limbus - Vergil
I. Todsünde - Acedia
Einige Minuten später, so schien es ihm, erwachte er und fühlte sich wie gerädert.
„Gut geschlafen, Gottesmann?“, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Erschrocken zuckte Marcus zusammen, zog sich schamhaft die Decke bis zum Kinn hoch und fauchte in die Richtung, aus der er die Stimme gehört hatte: „Auris, bei Gott! Was tut Ihr hier?“
„Warten, dass Ihr aufwacht“, schmunzelte sie, „keine Sorge, ich habe Euch weder unsittlich berührt, noch Euch irgend etwas anderes zu leide getan.“
„Hatte ich auch nicht erwartet“, brummte Marcus, blinzelte und gähnte ausgiebig.
„Vertraut niemals einem Dämon.“
„Heißt das, Ihr gebt zu, ein Dämon zu sein?“
Der Priester hörte Auris leise lachen, dann ein leichtes Scharren, als sie aufstand. „Ich habe es nie geleugnet, Marcus. Hinter der zweiten Tür befindet sich ein Waschraum. Macht Euch frisch und zieht Euch an, eure Soutane ist frisch gewaschen. Ich habe dafür gesorgt, dass wir etwas Warmes zu essen bekommen.“
Erneut blinzelte Marcus irritiert. „Wie habt Ihr das gemacht?“
„Ich hoffe die Frage bezieht sich darauf, wie ich etwas Essbares beschafft habe und nicht, wie ich es warm bekommen habe.“
Die Tür schlug zu und er lag wieder allein im dunklen Zimmer.
Nur ein schmaler Lichtstreifen wies ihm den Weg zum besagten Waschraum.
Mit beiden Händen hielt er die dicke Decke fest, eilte in den Waschraum und ließ die Decke erst los, als er sich versichert hatte, dass die Türe fest geschlossen war.
Ein intensiver Geruch nach Rosen ließ Marcus seufzen, er sah zu dem großen Holztrog.
Skeptisch beäugte er den Zuber von allen Seiten, trat wieder einige Schritte von ihm zurück und sah sich nach sauberen Tüchern um.
Die Wanne mit dem warmen Wasser sah verlockend aus, doch Marcus wusste, dass Wasser und Baden die Pest hervorrief. Der Hinweis, dass der Dämon ihm die Pest an den Hals wünschte, wurde von Marcus mit einem leisen Fluch quittiert, zu dessen Reue er im selben Moment ein Kreuz schlug.
Die Hölle allein war schon etwas, mit dem er nur schwerlich fertig wurde, auch noch die Pest am Hals zu haben würde sein Schicksal wohl endgültig besiegeln.
Auf einem Schemel in der Ecke des Zimmers lagen fein säuberlich zusammengelegte Leinentücher, darauf ein Flacon und eine Puderdose.
Akribisch rubbelte er sich mit den Tüchern ab und achtete darauf, nicht zu viel von dem Rosenöl, das vermutlich auch für das Badewasser benutzt worden war, aufzutragen.
Wie viel Zeit mochte wohl vergangen sein, seit er in der staubigen Bibliothek der Engelsburg nach Antworten gesucht hatte?
Stunden? Tage? Wochen?
Er glaubte um Jahre gealtert zu sein.
Seine Gedanken schweiften ab, zurück zu Auris. Endlich hatte sie zugegeben, ein Dämon zu sein, doch welchem Rang sie angehörte, war ihm noch immer schleierhaft.
Sie war keines dieser dummen Geschöpfe, die er sonst als Dämonen kannte.
War sie ebenfalls ein Sündenträger? Alles wies darauf hin, schließlich hatte sie Belphegor Bruder genannt.
Und was war mit ihm selbst?
Noch immer glaubte er nicht tot zu sein, dafür hatte er zu sehr um sein Leben gekämpft, genau wie Auris.
Zu stark schmerzten seine Glieder, zu rot war sein Blut.
Nachdem er den Puder aufgetragen hatte, wickelte er sich wieder in sein Laken und sah sich erneut um.
Misstrauisch beäugte er einen Spiegel und bekreuzigte sich intuitiv.
Vor vielen Jahren, zu Zeiten seines Noviziates, hatte er einen ähnlichen Spiegel im Hause eines Alchemisten, eines Häretikers, gesehen.
Glänzende, verlockende Objekte waren überall im Haus des Magiers verteilt, wundervoll, so fremd und so verlockend.
Patrick hatte ihn von einem großen, goldgeränderten Spiegel weggezogen und ihm eindringlich klar gemacht, dass jenes Teufelswerk ihn verzaubern und die Seele rauben könnte.
Zusammen mit Patrick hatte er das Haus des Ketzers ausgeräumt und die unheiligen Gegenstände und magischen, gotteslästerlichen Objekte zerstört.
Nur mühsam widerstand er dem Drang, diesen Spiegel ebenfalls zu zertrümmern.
Flüchtig sah seinem Ebenbild in die grünen Augen.
Woher die Falten um seine Augen plötzlich kamen, ob vom Erlebten oder den dämonischen Kräften des Objekts, wusste er nicht zu sagen.
Mit um die Hüften geschlungenem Tuch betrat er das kleine Schlafzimmer, fand auf Anhieb seine Soutane und zog sie rasch über.
Nicht, bevor er sich vergewissert hatte, dass die Türen fest geschlossen waren.
Zufrieden strich er den schwarzen Stoff ab und schnüffelte kurz an seinem Ärmel, der intensiv nach Seifenkrautwurzel roch.
Mit mulmigen Gefühl im Bauch fragte er sich, wie lange ihn Auris wohl beobachtet hatte. Was hatte sie in der Zeit getan, in der er geschlafen hatte?
Er schüttelte den Kopf, um die lästigen Gedanken zu vertreiben.
„Ich dachte schon, Morpheus hätte Euch entführt“, brummte Auris, als er die Türe öffnete.
Verblüfft rieb sich Marcus die Augen; hatte er in einer kleinen Kammer mit grob geschliffenen Felswänden geschlafen, so bemerkte er erst jetzt, dass sich diese Kammer in einem Palast befand.
Ihm bot sich ein atemberaubender Anblick. Der Raum vor ihm war groß genug um die Sixtinische Kapelle in sich unter zu bringen, und ganz aus weißem Marmor.
Gold und Stuck wohin er auch sah, fein geschnörkelte Kunstwerke aus Meisterhand, detailverliebt und mit größter Sorgfalt gefertigt.
Staundend durchquerte er den Raum, hielt hier um einen goldenen Apfel zu berühren, dort um das Bild eines anmutigen Hirsches genauer anzusehen.
Kopfschüttelnd ging er auf Auris zu, die an einem großen, üppig gedeckten Tisch in der Mitte des Raumes saß und selig kaute.
„Ich habe schon angefangen, Marcus. Ich hoffe, es stört Euch nicht“, brachte sie zwischen zwei Bissen heraus und sah zufrieden auf ein großes Stück Fleisch, das sie in bloßen Händen hielt.
Mit offenem Mund starrte der Priester auf ein großes, goldbraun gebratenes Schwein, von dem er einige Sekunden lang glaubte, dass es zurück starrte.
Sein Blick wanderte weiter zu mehren großen Stücken Fleisch, vielleicht Rind, von denen Auris sich vier auf den silbernen Teller geladen hatte, nebst gebratenen Pilzen, Bohnen von Speck umhüllt, Käse, Weintrauben und anderen kulinarischen Leckereien, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
Mit den Fingerspitzen strich Marcus unbewusst über den Marmortisch, weiter auf Auris starrend, die mit großen Schlucken den Weinkrug vor sich leerte.
„Habt Ihr keinen Hunger?“, fragte sie und lud sich ein Stück Käse, das scheinbar nur die Ummantelung einer fremdartigen Spezialität war, auf den Teller.
Fahrig nickte Marcus und setzte sich wie in Trance dem Dämon gegenüber.
Nach mehreren Minuten, die er damit verbracht hatte weiter zu starren, bemerkte er, dass Auris aufgestanden und neben ihn getreten war.
„Was?“, fragte sie gedehnt und wedelte mit einem silbernen Löffel.
„Ich weiß nicht“, nuschelte er verlegen, „das ist so – viel!“
„Hm. Probiert von allem etwas.“
Sie nahm seinen Teller und fing an, von allem, was auf dem Tisch stand, etwas drauf zu schaufeln, während Marcus die Stirn runzelte.
„Auris? Kann man das -“
„Ja, man kann das essen“, unterbrach sie ihn.
Höflichkeit war scheinbar etwas, das Dämonen vollkommen fremd war, dachte er und brummte: „Ihr sagtet, ich solle Euch nicht vertrauen.“
Sie stockte und schmunzelte. „Marcus, Ihr mögt mir gegenüber noch so misstrauisch sein, doch wenn es um Essen geht, könnt Ihr mir vertrauen. Schon in den ersten Tagen auf der Erde habe ich die Vorzüge von Nahrungsmitteln kennen gelernt.“
„Welche Nahrungsmittel?“, fragte Marcus neugierig und hoffte, dass Auris weiter reden würde.
Zu sagen er wäre neugierig mehr über sie zu erfahren, war eine glatte Untertreibung. Begierig sog er jede noch so kleine Information auf.
„Ein Apfel. Ein gewöhnlicher Apfel. Ich hatte zuvor noch nie etwas gegessen und es war, auch wenn es sich für Euch als Mensch dumm anhören mag, eine prägende Erfahrung. Dieser süße, fruchtige Geschmack.“
Der Priester stockte, überlegte und fragte schließlich leise: „Ein Apfel? Vom Baum der Erkenntnis?“
„Unsinn“, lachte sie, „den hat es nie gegeben. Gut und Böse waren von der Schöpfung vorhergesehen.“
„Was meint Ihr?“, fragte er und hörte selbst, dass seine Stimme unnatürlich hoch und hohl klang.
Sie stellte den randvoll gefüllten Teller vor ihm ab, umrundete den Tisch und setzt sich wieder.
Mit nachdenklichem Ausdruck sah sie ihn an, während er seinen laut knurrenden Magen ignorierte.
„Die alte Leier, Marcus. Ohne Licht kein Schatten, ohne gut kein böse. Wäre nur das Gute geschaffen worden, wäre es nichts gewesen, weil es keinen Gegensatz gegeben hätte. Es hätte sich nicht entfalten und entwickeln können.“
„Davon habe ich schon gelesen“, gestand Marcus leise und schob sich eine Weintraube in den Mund, „in panethistischen Schriften steht geschrieben, dass die Naturgesetze, das duale System an sich, das Leben und das Sein erst ermöglichen.“
Auris nickte und betrachtete mit kritischem Blick eine Karotte, legte sie aber wieder zur Seite.
„Der Panethismus kommt nah an die Wahrheit. Aber er spiegelt nicht die ganze Wahrheit wieder. Saytan, der, den ihr Teufel nennt, wurde von Ihm geschaffen, so wie alle anderen auch. Er und sein Bruder Saraph waren die Ersten Schöpfungen.“
„Lucifer?“, fragte Marcus überrascht. „Ihr kennt ihn?“
„Dummkopf“, erwiderte der Dämon trocken und seufzte, „natürlich kenne ihn. Ich kenne sie alle. Nennt ihn wie Ihr wollt, Lucifer, Teufel, es ist ihm egal und mir ebenso. Nein, haltet den Mund und lasst mich aussprechen!
Er schuf zwei völlig identische Geschöpfe, die selben Voraussetzungen, das selbe Grundwesen.
Die Schöpfung bestand aus Gleichnissen, Er schuf alle aus sich selbst und keiner war allein.
Doch Ihm war klar, schon bei der Schöpfung, dass Ihn einer verlassen und zur Dunkelheit werden würde.
Aus diesen Gleichnissen entwickelten sich Gegensätze. Hinter jedem Lichtwesen steht ein Gegenspieler, sein Gegensatz.
Irgendwann musste es zum Krieg kommen, das wusste Er. Darauf was alles ausgelegt.“
Fasziniert hörte Marcus Auris zu und vergaß erneut das Essen. Zu sehr kreisten seine Gedanken um das Gehörte, wie auch um das, was die Kurie verbreitete.
Er verglich die Informationen, wägte ab, überlegte und doch sperrte sich sein Geist. Was immer der Dämon versuchte ihm einzuflüstern, es war nicht die Wahrheit, nicht Gottes Sein.
Er wollte und konnte ihren Worten nicht glauben; und dennoch hörte er tief in seinem Inneren eine leise, hämische Stimme, die ihm sagte, dass alle Zweifel die er je an Gott hatte gerechtfertigt waren.
Dass sein Leben eine Lüge war.
„Dann ist Er also die Dunkelheit? Gott?“
„Nein“, sie lachte, „nein. Er ist mehr. Er ist alles. Ihr, ich, dieser Raum, diese Welt. Er sieht mich durch Eure Augen, Euch durch meine. Er erlebt alles was wir erleben, lacht und weint mit uns.
Versucht es nicht zu verstehen, Marcus, selbst ich kann es nur schwer begreifen.“
Einige Minuten schwieg der Priester, klaubte erneut eine Traube vom reich gedeckten Teller und kaute nachdenklich.
„In den Schriften stand, dass es keine Sünde vor Gott gibt“, murmelte er und bekam nur ein undeutbares Brummen als Antwort.
„Dann ist das die Wahrheit?“, fragte er leise.
„Jein“, sie seufzte und lehnte sich zurück, „die absolute Wahrheit kann ich nicht definieren.
Sünden, verwerfliche Schandtaten, sind real – so real wie Ihr und ich. Doch was Sünde ist und was eine Tugend, das definiert die Gesellschaft und jeder Mensch für sich selbst.
Gewisse Handlungen werden als Sünden abgetan, weil sonst ein Zusammenleben der Menschen, sogar eine friedliche Koexistenz, nicht möglich wäre.
Und, ja. Das sind Sünden. Auch vor Gott. Wie ich Euch bereits sagte, Er erlebt die Welt zusammen mit den Menschen. Was Ihr einem Mensch antut, das tut Ihr auch Ihm an.“
„Oh.“ Marcus’ Augen weiteten sich, als er begriff. „Aber dann heißt das, dass Er die Taten, die wir begehen, mit uns begeht?“
„Ja.“ Ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ihr scheint langsam zu verstehen.“
„Ich verstehe, dass ich nichts verstehe“, murmelte er und fuhr sich fahrig über das Gesicht, „warum das alles? Warum leben wir? Sind wir nur ein Spielzeug für Ihn?“
„Vielleicht.“ Sie lächelte vage. „Ich werde Euch nicht vorschreiben, was Ihr zu denken und zu glauben habt. Glaubt was Ihr wollt, denkt was Ihr wollt. Er hat euch dieses Leben gegeben, lebt es – in welchem Glauben auch immer.“
„Aber was ist das Leben mit diesem Wissen wert?“
„Fragt nicht einen Dämon nach dem Wert des Lebens.
Ihr lebt, Marcus, weil Ihr ein Teil der Welt seid. Ein Teil der Schöpfung. Warum, kann ich Euch nicht sagen, das müsst Ihr selbst heraus finden.
Jeder Mensch, jedes Tier hat sein eigenes Schicksal, seine Bestimmung. Alles hat einen Grund, auch wenn Ihr ihn nicht sehen könnt, so ist er doch da. Und Ihr seid wichtig, Marcus.“
„Für Gott oder für Euch?“, fragte er bitter. „Versteht mich, Auris. Ihr habt mir gerade gesagt, dass das, an das ich so lange geglaubt habe, falsch ist. Dass mein Leben aus einer Laune heraus entstand und ich nichts weiter bin als ein Spielzeug.“
„Das habe ich nie gesagt.“ Sie schmunzelte. „Ihr seid für mich wichtig, das gebe ich zu. Doch ich kann Euch zu nichts zwingen, genauso wenig wie Er. Ihr Menschen tragt sowohl das Gute als auch das Böse in euch. Und dazwischen die absolute Entscheidungsfreiheit.
Es ist ein Geschenk, Marcus. Sowohl das Leben als auch die Freiheit zu entscheiden.
Er gab euch dieses Leben und dazu die freie Wahl zwischen gut und böse. Anders als Saraph und Saytan könnt ihr euch sicher sein, dass ihr allein die Seite wählt.“
„Welche Seite ist die Eure?“, fragte er nach kurzem Schweigen. „Was seid ihr?“
„Satt“, erwiderte Auris und strich sich lächelnd über schwarzen Stoff, der sich über den sichtbar vollen Bauch straffte. „Esst, soviel Ihr wollt und wartet hier auf mich. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen.“
Marcus biss sich auf die Lippe, schluckte zahllose Fragen herunter und sah zu, wie Auris aufstand und ihm den Rücken zukehrte.
„Was wird mich erwarten?“, fragte er, bevor ihn doch der Mut verließ.
„Hm.“ Sie blieb stehen, drehte sich um und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Das müsst Ihr mir sagen. Noch sechs Reiche liegen vor uns, sechs Sündenträger erwarten Euch. Welche fürchtet ihr?“
„Alle“, murmelte Marcus und fuhr sich fahrig mit der Hand über das Gesicht. „Wenn ich überall derartige Prüfungen bestehen muss, wie Belphegor sie für mich ausgewählt hat – ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Nicht nur Prüfungen warten auf Euch“, erwiderte sie nachdenklich, „Belphegor konnte Euch nicht viel anhaben. Ihr wart nie sonderlich träge oder faul. Doch die anderen Sündenträger werden Euch gegenüber nicht machtlos sein. Sie werden Euch Eure Fehler vor Augen führen, Euch leiden lassen und sich daran erfreuen.“
„War ich ein derart schlechter Mensch?“, fragte er mir rauer Stimme und nickte fahrig. „Ich war kein guter Mensch. Ich dachte immer, die Kurie würde mich vor meinen Sünden schützen, dabei habe ich wohl oft vergessen, dass die Kurie nicht unser Schöpfer ist.“
Auris nickte wortlos, drehte sich um und verließ den Raum.
Der Priester blieb allein zurück und hing seinen Gedanken nach.
Im Geiste ging er die Sünden durch, denen er sich schuldig gemacht hatte und kam zu dem erschreckenden Ergebnis, dass er nichts in seinem Leben ausgelassen hatte.
Ereignisse traten ihm vor Augen, bei denen er sich selbst mit zornig roten Kopf sah, er sah sich bei ausschweifenden Banketten der Kurie und schielte auf den reich gedeckten Tisch, nebst seinem vollen Silberteller.
Er schob den Teller von sich weg und beschloss, dass er keinen Hunger mehr hatte.
Wie oft war er habgierig gewesen, sei es nur bezogen auf die Anerkennung seines Vorgesetzen, um schneller einen höheren Stand zu erreichen als seine Mitbrüder.
Neidisch hatte er seine Kollegen betrachtet, die ihm vorgezogen wurden oder interessantere, bessere Aufträge bekamen als er selbst.
Hochmütig hatte er herabgeblickt auf Heiden und Häretiker, die täglich eine Sünde begingen und nicht an Gott glaubten oder sogar zu falschen Göttern beteten.
Nur Wolllust konnte er sich nicht vorwerfen. Seit Jahren schon nicht mehr. Doch in der hintersten Ecke seiner Erinnerung regte sich etwas. Etwas, das er seit Jahren zu vergessen versuchte.
Unwillig schüttelte er den Kopf und stand langsam auf.
Es gab kein Entkommen, das wusste Marcus. Der einzige Weg, der ihn aus der Hölle führte war, dem Dämon Auris zu folgen. Die Flucht nach vorn.
Als er durch die Türe trat, durch die er vor nicht einmal einer Stunde den Saal betreten hatte, erstarrte er mitten in der Bewegung.
Eisiger Wind peitschte ihm unbarmherzig ins Gesicht, während Schneeflocken seine Sicht eingrenzten.
Erschrocken fuhr er herum, als die Tür hinter ihm zuknallte und musste tatenlos mit ansehen, wie sie verschwand.
Er brummte frustriert, fluchte leise vor sich hin und kniff die Augen zusammen.
Vor ihm erstreckte sich eine winterliche Landschaft, kahl und verschneit.
Seine Soutane war nicht auf Winter ausgelegt, schon nach ein paar Minuten fror es ihn erbärmlich.
Er beschloss die Umgebung zu erkunden, eine dumme Idee, wie er wusste, doch herumstehen und erfrieren konnte er auch noch später.
Mit verschränkten Armen stapfte er los.
Schon bald waren seine Schuhe völlig durchnässt, seine Füße selbst fühlten sich an wie Eisklötze und waren kurz darauf völlig taub.
Zitternd blieb er stehen, wandte sich nach links, wandte sich nach rechts und seufzte frustriert.
Wenn er nicht schon tot war, würde er sicherlich erfrieren.
Eine Bewegung, die er aus dem Augenwinkel sah, ließ ihn herum fahren.
Nichts.
Weiße, kalte Winterlandschaft.
Plötzlich sah er in einiger Entfernung etwas oder jemanden laufen, als wäre der Teufel selbst hinter ihm her.
Stirnrunzelnd überlegte Marcus hier zu warten, zu erfrieren oder demjenigen, wer immer es auch war, zu folgen.
Wenn ein Mensch flüchtete, egal vor was, dann immer in die Nähe anderer Menschen.
Leise fluchend stapfte Marcus weiter.
In den letzten Stunden hatte er mehr geflucht als in seinem ganzen Leben zuvor, doch er hatte gute Gründe dafür.
Noch einmal überdachte er seine Situation: Er war in der Hölle, in eisiger Kälte gefangen und auf sich allein gestellt.
Wo, zur Hölle, war Auris?
„Auris?“, rief er und fing an zu husten, als er die kalte Luft tief einatmete.
„Auris? Verdammt! Wo bist du? Auris!“
Noch bevor der Tumult losbrach wusste Marcus, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Man stellte sich nicht einfach in die Hölle, brüllt darauf los und hofft auf eine positive Reaktion.
Die Reaktion in diesem Falle waren einige Köpfe, die hinter einem Hügel erschienen und Marcus entgegen starrten.
Im ersten Moment freute er sich, Menschen zu sehen, bis er bemerkte, dass die Gruppe, die auf ihn zugerannt kam, keineswegs freundlich aussah.
Mager und abgekämpft, mit zerrissenen, schmutzigen Fetzen am Leib und mordlüsternem Glitzern in den Augen bahnten sie sich ihren Weg durch den Schnee.
Nur einige Sekunden blieben Marcus zu entscheiden: Fliehen oder stehen bleiben?
Er entschied sich für die erste Möglichkeit und stapfte drauf los.
Im knietiefen Schnee kam er nur mäßig voran, nach einigen Metern keuchte er bereits und bereute erneut, das warme Esszimmer verlassen zu haben.
Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr, allesamt in einer Sprache, die er nicht verstand. Doch nichts davon klang in seinen Ohren freundlich oder gar herzlich.
Er versuchte schneller voran zu kommen, während die Stimmen sich ihm unaufhörlich näherten.
Der Schnee wurde tiefer, die gefrorene Schicht aus Eis, auf dem der Schnee lag, war halsbrecherisch glatt und er wusste, sollte er stürzen, würde er unweigerlich in die Hände der irre schreienden Meute fallen.
Wer auch immer diese Wilden waren, woher sie auch kommen mochten, seine innere Stimme sagte ihm, dass er sie nicht kennen lernen wollte.
Er verfluchte sich selbst eine xbeliebige Tür in der Hölle – wohlgemerkt der Hölle – geöffnet zu haben und verfluchte Auris für ihr Verschwinden. Nein, für ihr Dasein!
Wo war sie, wenn man sie brauchte? Noch einmal nach ihr zu rufen kam Marcus nicht in den Sinn, zu sehr brannte die kalte Luft in seinen Lungen. Keuchend bahnte er sich seinen Weg, rutschte hier und da mit den nassen Leinenschuhen auf dem Eis, versuchte die Balance zu halten und gleichzeitig voran zu kommen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn einholen würden.
Noch bevor er sich umdrehen konnte, spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf und fiel um.
Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er einen Mann über sich gebeugt, dessen ausgemergeltes Gesicht zu einer Fratze verzerrt war.
Der Mann holte mit einem Stock aus, Marcus wollte schreien, doch kein Laut entwich mehr seiner Kehle.
Langsam lichtete sich die Dunkelheit, der Schmerz kam zurück, ein dumpfes Pochen, das durch zunehmenden Schwindel verstärkt wurde.
Es war kalt, fast eisig, doch windstill. Geräusche drangen an sein Ohr: Flüsternde Menschen, das Schreien eines Kindes, knisterndes Feuer.
Und irgendetwas in seiner Nähe stank erbärmlich. Der Geruch erinnerte ihn an die Kerker des Klerus, ebenso wie an die Hexenverbrennungen, denen er hatte beiwohnen müssen.
Er würgte trocken und versuchte sich an die Kehle zu greifen. Vergebens.
Rauhe Fesseln schnitten in sein Fleisch und zwangen ihn dazu, still zu verharren. Vorsichtig öffnete er ein Auge.
Etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen, auch wenn Marcus sich wunderte nicht in einem Verlies oder Kerker erwacht zu sein.
Die Seile waren aus Hanf oder etwas ähnlichem, kein Eisen, doch so fest, dass sie ihm die Blutzufuhr in die Arme und Beine abschnitten.
Mit dem Rücken saß er gegen die Wand einer Ecke gelehnt und hatte fast den ganzen Raum im Blick.
Verschwommen sah er graue Wände, davor ein Feuer, um das mehrere dürre Gestalten saßen. Er drehte seinen Kopf leicht, so dass er keine Aufmerksamkeit erregte und öffnete das zweite Auge einen Spalt.
Noch mehr Gestalten, verwahrlost und zerzaust.
Einige abgemagerte Frauen, Männer mit verwilderten Bärten, doch keine Kinder.
Marcus unterdrückte ein erleichtertes Seufzen; zumindest keine Kinder.
Doch er hatte ein Baby schreien hören, da war er sich sicher.
Eingehend musterte er die Fremden; unter den einfachen Leinenhemden zeichneten sich hervorstehende Schulterknochen ab, schmale Arme, die Marcus an die dürren Äste toter Bäume erinnerten, hingen kraftlos an ihrer Seite herunter.
Die dreckverkrusteten Gesichter waren eingefallen, hin und wieder, wenn einer der Fremden zu ihm sah, erkannte er blanken Wahnsinn in den blutunterlaufenen Augen.
Er erschauderte, als einer der Kreaturen, er wagte es nicht sie Menschen zu nennen, auf ihn zukam und in einer fremden Sprache mit den anderen Wesen sprach.
Es war für ihn nicht einmal ansatzweise zu bestimmen, welche Sprache die Geschöpfe untereinander nutzten, sprach Marcus selbst doch nur Latein und Italienisch. Und keines der Worte konnte er nur annähernd einem von beiden zuordnen.
Plötzlich wurde sein Kopf gepackt und grob herum gerissen.
Mit geröteten Augen starrte ihn eine dieser Kreaturen an, sagte etwas zu den anderen, worauf hin diese lachten.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte der Priester und hoffte, die Fremden würden ihn verstehen.
Was er mit einer Konversation bezwecken wollte, war ihm selbst nicht klar. Es war nur ein verzweifelter Versuch, sich aus dieser Situation heraus reden zu können, ob mit einem Appell an das Gewissen, oder einem Hinweis auf seinen priesterlichen Stand.
Doch als sein Gegenüber den Kopf schüttelte, erneut lachte und Marcus eine saftige Ohrfeige verpasste, war ihm klar, dass er ein Problem hatte.
Seine Wange brannte heiß, ekliger, fauliger Geruch, der von der Kreatur ausging, ließ ihn würgen und von dem Rauch im Raum tränten ihm die Augen.
Die anderen Kreaturen lachten ebenfalls; gehässig, unnatürlich fröhlich wie es ihm schien.
Während sich der Fremde wieder von ihm entfernte, fing ein Baby im Nebenraum an zu schreien.
Neugierig verdrehte Marcus den Kopf, sah mit tränenverschleiertem Blick, wie der Fremde, der ihn geschlagen hatte, den Nebenraum betrat.
Die Schatten an der Wand ließen Marcus miterleben was geschah.
Auf dem Tisch lag ein Kind, schreiend, weinend. Es zappelte und seine Stimme überschlug sich, als der Fremde sich über es beugte.
Woher der Stock kam, vermochte Marcus nicht zu sagen, doch schon als er ihn in den Händen der Silhouette sah, war ihm klar, was die Kreatur vorhatte.
„Nein, nein! NEIN!“
Marcus schrie, als der Fremde mit dem Stock weit ausholte und schloss die Augen.
Einige Sekunden übertönte sein Schrei den des Kindes, bis er ein für ihn unvergessliches dumpfes Geräusch hörte und das Kind aufhörte zu schreien.
Mit fest zusammen gekniffenen Augen wurde er von Weinkrämpfen gebeutelt.
Hätte er gekonnt, hätte er sich die Ohren zugehalten, als er hörte, wie etwas über den hölzernen Tisch gezogen wurde, wie die Kreatur den Nebenraum verließ und an ihm vorbei schlurfte.
Keine Sekunde öffnete er die Augen, denn er wusste, welch grauenvoller Anblick ihn erwarten würde.
Wie lange er so dasaß, zusammengekauert und still weinend, wusste er nicht.
Er roch verbranntes Fleisch, hörte die Kreaturen laut reden, lachen und irgendwann schmatzen.
So gut es ging rollte er sich in seiner Ecke zusammen, drehte seinen Kopf in Richtung der Wand und versuchte die Schreckensbilder, die vor seinem inneren Auge aufstiegen, zu verdrängen.
Gelähmt vor Schock war er zu keinem klaren Gedanken fähig. Innerlich gab er Auris die Schuld an dieser Situation, aber auch sich selbst und der Kurie.
Hätte die Kurie ihn nicht zu diesem Weibsstück geschickt, wäre er sich nie in diese Situation geraten.
Und hätte er selbst nur ein wenig mehr Mut gehabt, ein wenig mehr Kraft, hätte er sie getötet.
Es wäre nicht sein erster Mord gewesen.
Langsam trat der Gedanke an Flucht in den Vordergrund.
Was er erwartete, wusste er nicht, doch dies hier war die Hölle. Und er konnte sich ausmalen, dass sich die Kreaturen nicht über seine Anwesenheit, sondern nur über sein saftiges Fleisch gefreut hatten.
Hier galten andere Regeln als in seiner Welt.
Andere Regeln.
Er stockte.
Auris suchte ihn vermutlich schon, doch warum war sie noch nicht bei ihm?
„Auris“, flüsterte er zu sich selbst und konzentrierte sich mit der völlig irrationalen Hoffnung, sie würde ihn hören.
Die Geräusche um ihn herum verstummten schlagartig.
Nur noch das leise Knistern des Feuers war zu hören, doch noch wagte er nicht sich umzudrehen.
Er hörte Schritte, langsam, gemächlich, von schweren Stiefeln wie von einem Reiter oder Krieger.
Jemand kam näher, jemand, der den Kreaturen Angst machte. Er hörte sie leise und ängstlich wimmern.
Bei jedem Schritt zuckte der Priester zusammen, in banger Erwartung, von dem Sündträger dieses Reiches in Fetzen gerissen zu werden.
Zwar wusste Marcus nicht, in welchem Reich er gefangen gehalten wurde, doch schauerliche Gedanken von monströsen Dämonen ließen ihn erzittern.
Unnatürlich laut klangen die Schritte in den Ohren des Priesters, das rythmische Klopfen machte ihn fast wahnsinnig. Kurz bevor er glaubte, die Nerven vollends zu verlieren, verstummten die Schritte.
Hinter sich hörte er Kleidung rascheln, dann ein synchrones Knacken, als wenn jemand in die Knie gehen würde.
„Ihr habt mich gerufen?“
Vorsichtig öffnete Marcus ein Auge, drehte sich leicht nach links und spähte über seine Schulter. Vor ihm saß Auris uns sah ihm aufmerksam, fast belustigt entgegen.
Einige Sekunden überlegte er, ob er aufspringen, sich auf sie werfen und erwürgen sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder; ein länglicher Dolch, der in einer Halterung ihres breiten Ledergürtels hin, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Marcus ahnte, dass Auris mit der tödlichen Waffe umzugehen wusste und dass sie keine Sekunde zögern würde, sie gegen ihn zu verwenden.
Die Fesseln fielen wie von Zauberhand von ihm ab, vorsichtig bewegte Marcus seine Beine und Arme, bevor er sich wieder zu Auris wandte.
Er nickte ihr vage zu und presste die Lippen aufeinander, als sein Blick zu dem Lagerfeuer in der Höhle abglitt. Auf einem Spieß über der noch rauchenden Kohle waren Reste eines kleinen Skelettes zu erkennen.
Dahinter, an die Höhlenwand gedrückt und ängstlich zu ihnen herüber starrend, die Kreaturen.
„Sie haben ein Kind getötet“, flüsterte Marcus stockend und spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen.
Er schniefte laut, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zeigte auf die verängstigten Kindsmörder.
„Steht auf“, sagte Auris, nachdem sie einen Blick über die Schulter geworfen hatte und sich wieder aufrichtete.
Wie Marcus vermutet hatte, hatte der Dämon die verkohlte priesterliche Robe abgelegt. Sie trug schwere Kampfstiefel und eine einfache schwarze Robe, wie es sonst bei Mönchen üblich war.
Er schob sich die Wand hoch, zitterte ob des Entsetzens und der Kälte.
Den Blick hielt er weiterhin auf Auris gerichtet, hätte er zu den Kreaturen gesehen, hätte er vielleicht Mitleid mit den traurigen, abgemagerten Gestalten bekommen.
Doch er wollte sie hassen. Inbrünstig hassen.
Er wünschte ihnen nichts sehnlicher als die ewige Verdammnis.
„Kindsmörder, sagtet Ihr?“, fragte Auris und sah ihn nachdenklich an.
„Ja, sie haben es -“, er schluckte hart und schloss die Augen. Das Geräusch, als dieses Monster mit dem Knüppel auf das Kind eingeschlagen hatte, würde er nie vergessen.
„Sie haben es erschlagen und dann – dann haben sie es...“
Er verstummte und zeigte auf den rauchenden Ascheberg in der Mitte der Höhle.
„Verstehe“, erwiderte der Dämon gedehnt und schüttelte den Kopf, bevor sie sich umdrehte und ihm bedeutete, ihr zu folgen.
„Auris! Wir können nicht einfach gehen!“, ereiferte sich Marcus sofort, schoss vor und hielt sie an ihrem Arm fest.
Sie versteifte sich, im selben Moment wusste der Priester, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Plötzlich fühlte er etwas Kaltes an seinem Hals, kälter als jeder Stahl es sein könnte.
„Ihr wollt Rache? Schön. Dann nehmt sie“, zischte Auris und drückte ihm den Dolch, den sie ihm Sekunden zuvor an den Hals gehalten hatte, in die Hand.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn, so heißt es doch!“
„Aber...“
Die Waffe in seiner Hand wog schwer. Erst jetzt erkannte er, dass nicht die Halterung schwarz war, sondern der Dolch selbst.
Die lange, gebogene Klinge erinnerte ihn in seiner Form an eine arabische Waffe. Woraus sie gearbeitet war, wusste Marcus nicht; es war kein ihm bekanntes Metall.
Mit dem Daumen strich er über den Griff und fühlte, wie der Dolch zitterte.
Der erste Impuls war die Waffe fallen zu lassen, doch Marcus umklammerte den Griff fester als zuvor.
Das weiche Leder, mit dem der Griff umhüllt war, war warm und irgendetwas ging von der Waffe aus, das dem Priester die Angst nahm.
Und die Zweifel.
Marcus drehte sich um, weg von dem Dämon, der ihn mit einem herablassenden Lächeln beobachtete, hin zu den Kreaturen und ging langsam auf sie zu.
Sein Kopf fühlte sich schwer an, bleiern, als würde etwas oder jemand die Kontrolle übernehmen.
Nur ein Gedanke, der daran, alle in diesem Raum zu töten, beherrschte seinen Geist.
Als er den Dolch hob, setzte sein Gewissen aus.
Ohne nachzudenken fuhr sein Arm herab, auf eine Frau, die nicht einmal mehr die Zeit hatte zu schreien. Innerhalb eines Wimpernschlages verbrannte sie zu Asche.
Er wandte sich zu einem Mann, nicht der, der das Kind getötet hatte, doch es war Marcus gleich.
Auch er war innerhalb von Sekunden ausgelöscht.
Wie in Trance fuhr immer wieder der Dolch auf und ab, vor und zurück, nicht eine Sekunde wunderte sich Marcus, dass keine der Kreaturen sich wehrte.
Der letzte, der zehnte, war derjenige, der das Kind getötet und der Marcus geschlagen und gedemütigt hatte.
Ohne, dass ihm ein Wort über die Lippen kam, starb auch er.
Eine nie gekannte Macht brachte das Blut des Priesters zum Kochen, als er sich umdrehte und zu Auris sah, hatte sich der Gedanke den Dolch zu behalten bereits gefestigt.
Was auch immer nötig war, er würde diese kraftvolle Waffe nie wieder hergeben.
Langsam ging er auf sie zu, stellte am Rande überrascht fest, dass sie ihn immer noch anlächelte und dachte bei sich, was für ein dummes Weibsbild sie doch war, wenn sie glaubte, er würde ihr den Dolch zurück geben.
In seinen Gedanken war der Dämon bereits nichts weiter als ein Häufchen Asche.
Überrascht riss er die Augen auf, als sie plötzlich vor ihm stand, mit der Hand an seiner Kehle und zudrückte.
Er wollte seine Waffe nutzen, um den Dämon zu vernichten, doch den Dolch hatte sie ihm schon längst aus den Händen geschlagen.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Waffe nah am Feuer lag und die glänzende Oberfläche ihm verlockend entgegen schimmerte.
„In Euch steckt mehr Böses, als ich gedacht hatte“, murmelte sie und sah ihm in die Augen.
So nah wirkte das helle grau beängstigend kalt auf ihn.
Mit beiden Händen umklammerte er Auris’ Arm, während sie ihn immer noch am Hals gepackt hielt und zudrückte.
Er röchelte, wollte zuschlagen und wusste im selben Moment, dass es nichts bringen würde.
„Ihr solltet Euch beruhigen, Marcus. Wenn ich Euch noch länger festhalten muss, werde ich Euch erwürgen“, sie stockte kurz und lächelte noch ein wenig breiter. „Nicht, dass es um Euch schade wäre. Ihr hattet vor mich zu vernichten, nicht wahr? Vielleicht seid Ihr dümmer, als ich gedacht hatte.“
Erst jetzt wurde ihm klar, was er getan hatte.
Mit einem Mal kam ihm seine Rache nicht mehr so gerecht vor wie noch vor ein paar Minuten.
Er hatte keine Kreaturen vernichtet, er hatte menschliche Seelen ausgelöscht.
Eine Sünde, schwerer und schlimmer, als jede andere es je sein könnte.
Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er die Seelen ins ewige Vergessen geschickt, ohne dass sie jemals wieder die Chance bekamen, ihre Sünden zu bereuen.
Wie schon in der Vergangenheit hatte er sich von seinen niedersten Instinkten führen lassen.
Das Bild von einem blutgetränkten Bettlaken schwebte ihm plötzlich vor Augen, ein Gesicht ängstlich verzerrt, ein Körper am Boden mit einem roten Kranz um den Kopf.
Unter das Röcheln mischten sich gequälte Schluchzer.
„Marcus, fangt nicht schon wieder damit an.
Ihr habt die Seelen nicht ausgelöscht. Dazu habt Ihr keine Macht. Nicht einmal mit dem Dolch“, sagte sie und ließ ihn los.
Überrascht schrie der Priester auf, fiel rückwärts und knallte hart auf den Boden.
Er rang nach Luft, hielt mit einer Hand die schmerzende Stelle am Hals und starrte Auris an, die zu ihm hinab sah, als wäre er ein Stück Dreck.
„Haltet den Mund und folgt mir“, sagte sie, während sie den Dolch aufhob und auf den Ausgang zuhielt.
Er rappelte sich schnellstmöglich auf und stürzte Auris hinterher. Keine Sekunde länger wollte er allein an diesem Ort verbringen.
Noch einmal wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, rieb seine Augen und schniefte, bevor er vor die Höhle trat.
Augenblicklich peitschte ihm eisiger Wind ins Gesicht, er fror erbärmlich und ahnte, dass seine Lippen bereits blau waren.
Draußen erwartete ein Anblick, der ihn die Kälte einen Moment vergessen ließ: so weit er blicken konnte erstreckten sich Berge, die mit Löchern förmlich übersät waren. Auch er war aus einer dieser unzähligen Berghöhlen getreten und kombinierte, dass dies wohl die Behausung der hier vor sich hin vegetierenden Seelen darstellen sollte.
Die Gegend erschien ihm verlassen, doch er ahnte, dass Auris der Grund für die gespenstische Stille war.
„Wisst Ihr, wo ihr hier seid?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Marcus musste nicht lange überlegen. Mit zittriger antworte er: „Maßlosigkeit.“
„Richtig. Die Seelen hier müssen verzichten, auf alles, das im Leben Freude bereitet“, sie deutete zum Himmel, „bis hin zur Sonne. Hier regieren Kälte, Hunger und Leid.“
„Das ist grausam“, erwiderte Marcus gepresst, während er versuchte, das Zittern zu unterdrücken.
„Es ist die Hölle, Marcus, begreift es endlich.“
Sie schlenderte weiter und redete, ohne auf ihn oder seinen Zustand zu achten.
„Keiner hier hat in seinem Leben auch nur einmal daran gedacht, anderen etwas zu geben. Selbstsucht kennt keine Grenzen, ebenso wenig wie das Leid, das sie hier ertragen müssen.“
Ungläubig schüttelte Marcus den Kopf. „Und das Baby? Es hatte noch nicht einmal die Chance selbstsüchtig zu sein!“
Sie blieb aprupt stehen. „Wartet hier.“
Mit schnellen Schritten betrat sie eine der Höhlen, die für den Priester aussah wie jede andere auch.
Nach nicht einmal einer Minute kehrte sie zurück, in ihren Armen ein schreiendes Bündel.
Marcus’ Herz zog sich zusammen, er ging ihr wankend entgegen und streckte seine Hand nach dem in braunen Stoff gewickelten Kind aus.
„Fasst es nicht an!“, zischte Auris und ging einen Schritt zurück.
Erschrocken zog der Priester seine Hand zurück.
„Macht die Augen auf, Marcus! Seht es Euch genau an“, sagte sie und hielt das Baby von sich gestreckt.
Die kleine Hand mit den winzigen Fingern grabschte ins Leere, während das runzlige Gesicht von der Anstrengung rot glühte.
„Seht nicht das Kind an, seht was dahinter ist“, sagte der Dämon leise, „Ihr glaubt ein Neugeborenes zu sehen, ein menschliches Kind, doch hier ist kein Platz für Menschenkinder, Marcus. Seht hin, seht genau hin.“
Erneut lag sein Augenmerk auf dem Baby, das sich langsam, unter seinem entsetzten Blick, zu verändern begann.
Das Gesicht wurde runzliger, die Haut rötete sich und die kleinen Hände wurden zu Krallen.
Auch das Schreien veränderte sich – und wurde zu einem schrillen Pfeifen.
Als Marcus das letzte Mal hinsah, zog das Wesen in Auris Armen eine hässliche Fratze und sah ihm mit gelben, bösartig glühenden Augen entgegen.
Kopfschüttelnd wandte sich der Priester ab und ging weiter.
Hinter ihm hörte er, wie etwas in den Schnee klatschte.
„Warum das alles?“, fragte er in die Stille und blieb stehen, ohne sich umzudrehen. „Warum?“
„Hier ist nichts, wie es scheint. Das Neugeborne, das Ihr glaubt gesehen und gehört zu haben, war ein Dämon.
Manchmal finden die Seelen hier kleine Dämonen und nehmen sie mit. Sie sehen sie nicht als das, was sie sind, sondern wie du als Babys.
Und was mit ihnen geschieht, habt Ihr selbst gesehen.“
„Aber warum?“, schrie der Priester und fuhr herum, „wo liegt der Sinn?“
„Sinn? Ihr sucht einen Sinn im Grauen der Hölle?“, sie lachte, „Der Sinn ist, dass die Seelen, nachdem sie begreifen, was sie getan haben, einen weiteren Teil von sich selbst verlieren. Ihren Verstand. Was wiederum dem Sündenträger und seinen Dämonen Freude bereitet. Leid ist hier Freude, das ist der Sinn.“
„Aber sie haben Hunger“, sagte Marcus mehr zu sich selbst, „sie haben doch nur Hunger...“
„Nein, sie spüren keinen Hunger. Sie spüren nicht einmal die Kälte, um genau zu sein. Solche Empfindungen enden mit dem Tod“, belehrte Auris ihn und ging weiter, „doch noch immer sind sie maßlos und glauben essen zu müssen. Sie glauben Hunger zu haben. Bedenke, Marcus: Die Hölle wird geprägt von dem was die Menschen glauben. Glaube ist stark, er ist das was hier zählt.“
Er nickte und folgte ihr, obwohl er kaum mehr Schritt halten konnte. „Und die, die ich... die... ich angegriffen habe? Was hat dieser Dolch mit mir gemacht?“
„Die Seelen werden sich regenerieren – vielleicht. Oder weiter vor sich hinvegetieren, was sie auch vorher schon getan haben. Sie hatten die Hoffnung, dass Ihr ihnen den Schmerz nehmt, doch dazu seid Ihr nicht imstande.“
„Und der Dolch?“, bohrte er weiter. „Irgendetwas ist mit mir geschehen.“
„Der Dolch ist ein Erbstück“, erwiderte sie kurz angebunden.
„Wie meint Ihr...“ Irritiert blieb Marcus stehen, als er gegen ein Tisch stieß, den er Sekunden zuvor noch nicht wahrgenommen hatte.
„Was zum...“
Auf dem so plötzlich erschienen Tisch thronte ein gebratenes Schwein, fett und köstlich glänzte es und wirkte absolut fehl am Platz.
Der Dämon umrundete ohne das Schwein aus den Augen zu lassen den Tisch und nahm sich ein Messer.
Stirnrunzelnd besah der Priester das Schwein und erschrak fürchterlich, als es plötzlich die Lider aufschlug und ihm mit gelben, wachen Augen entgegen sah.
Auris rammte das Messer in die hintere Backe, was das Schwein missfallend grunzen ließ.
Sie steckte ein Stück Fleisch in den Mund und verzog angewiderte das Gesicht: „Teufel, Beelzebub, ich hatte ganz vergessen, dass du nach faulen Eiern schmeckst.“
Auris spuckte das Stück Fleisch angewidert in den Schnee, der darunter sofort zischend schmolz.
„Das Schwein?“, murmelte er geschockt, „ist es das Selbe, wie heute Morgen?“
Auris nickte und besah skeptisch das Schwein. „Ihr habt ihn nicht angerührt, das war Euer Glück, Marcus. Zwei Trauben habt Ihr gegessen, nicht mehr. Er hat genau darauf geachtet – und war sehr enttäuscht. Nicht wahr?“
Grinsend schnitt sie dem Schwein ein Ohr ab, das daraufhin erbost quiekte.
„Er kann Euch nicht hier halten, Ihr habt Euch seiner Sünde nicht schuldig gemacht“, sagte sie und sprach in das abgeschnittene Ohr, „tut mir leid, Bruder. Ich fürchte, du hast versagt.“
Auch das Ohr landete ihm Schnee und verschwand zischend.
„Lasst uns gehen, Marcus“, sagte sie, rammte dem Schwein das Messer in den Rücken und deutete auf einen Höhleneingang, der im Gegensatz zu den anderen schwach von innen heraus leuchtete.
Unter erbostem, hysterischen Quieken seitens des Schweins machte sie kehrt und ging auf den Höhleneingang zu.
Schnellen Schrittes folgte Marcus dem Dämon und warf noch einen letzten Blick zu dem Schwein, das ihnen gehässig hinterher starrte.
„Auris?“
„Hm?“
„Also war das alles nicht echt?“
„Ihr sprecht von dem, was Ihr gefühlt habt“, sagte sie und blieb stehen, um ihm in die Augen zu sehen. „Das war echt. Der Hass. Die Mordlust. Alles. Das, was ihr gefühlt habt, ist ein Teil von Euch.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte er sofort und stutzte, als sie anfing zu lachen.
„Ihr habt gelernt, sehr gut.“
„Nein“, murmelte er, „ich verstehe immer noch nichts.“
Er biss sich auf die Lippe. „Was würde ich sehen, wenn ich Euch ansehe wie das Kind?“
Sie schmunzelte und zuckte die Schultern. „Warum wagt Ihr es nicht einfach?“
Er schwieg, worauf hin sie ihn abschätzig von der Seite ansah. „Ihr habt Angst. Verstehe.“
Marcus widersprach nicht, sondern folgte ihr schweigend. Er hatte bereits versucht, ihre wahre Gestalt zu sehen, in dem Moment, als sich das Gesicht des Kindes zu einer Fratze verzogen hatte.
Doch dann hatte er Angst bekommen und sich von ihr abgewandt. Noch war er nicht bereit dafür.
Am Höhleneingang angekommen, blieb Auris stehen und sah ihn einige Sekunden schweigend an.
„Was ich Euch noch sagen wollte...“
Müde sah er auf und wartete auf neue erleuchtende Worte, die er nicht verstehen würde.
Sie beugte sich vor, legte ihre Hände auf seine Schultern und zog ihn näher.
Als ihr Atem sein Ohr streifte, fiel alle Kälte von ihm ab. Er glaubte innerlich zu verbrennen.
„Tote frieren nicht, Marcus.“
Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimmst.
Dante Alighieri, (1265 - 1321), italienischer Dichter
Limbus - Vergil
I. Todsünde - Acedia
Einige Minuten später, so schien es ihm, erwachte er und fühlte sich wie gerädert.
„Gut geschlafen, Gottesmann?“, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Erschrocken zuckte Marcus zusammen, zog sich schamhaft die Decke bis zum Kinn hoch und fauchte in die Richtung, aus der er die Stimme gehört hatte: „Auris, bei Gott! Was tut Ihr hier?“
„Warten, dass Ihr aufwacht“, schmunzelte sie, „keine Sorge, ich habe Euch weder unsittlich berührt, noch Euch irgend etwas anderes zu leide getan.“
„Hatte ich auch nicht erwartet“, brummte Marcus, blinzelte und gähnte ausgiebig.
„Vertraut niemals einem Dämon.“
„Heißt das, Ihr gebt zu, ein Dämon zu sein?“
Der Priester hörte Auris leise lachen, dann ein leichtes Scharren, als sie aufstand. „Ich habe es nie geleugnet, Marcus. Hinter der zweiten Tür befindet sich ein Waschraum. Macht Euch frisch und zieht Euch an, eure Soutane ist frisch gewaschen. Ich habe dafür gesorgt, dass wir etwas Warmes zu essen bekommen.“
Erneut blinzelte Marcus irritiert. „Wie habt Ihr das gemacht?“
„Ich hoffe die Frage bezieht sich darauf, wie ich etwas Essbares beschafft habe und nicht, wie ich es warm bekommen habe.“
Die Tür schlug zu und er lag wieder allein im dunklen Zimmer.
Nur ein schmaler Lichtstreifen wies ihm den Weg zum besagten Waschraum.
Mit beiden Händen hielt er die dicke Decke fest, eilte in den Waschraum und ließ die Decke erst los, als er sich versichert hatte, dass die Türe fest geschlossen war.
Ein intensiver Geruch nach Rosen ließ Marcus seufzen, er sah zu dem großen Holztrog.
Skeptisch beäugte er den Zuber von allen Seiten, trat wieder einige Schritte von ihm zurück und sah sich nach sauberen Tüchern um.
Die Wanne mit dem warmen Wasser sah verlockend aus, doch Marcus wusste, dass Wasser und Baden die Pest hervorrief. Der Hinweis, dass der Dämon ihm die Pest an den Hals wünschte, wurde von Marcus mit einem leisen Fluch quittiert, zu dessen Reue er im selben Moment ein Kreuz schlug.
Die Hölle allein war schon etwas, mit dem er nur schwerlich fertig wurde, auch noch die Pest am Hals zu haben würde sein Schicksal wohl endgültig besiegeln.
Auf einem Schemel in der Ecke des Zimmers lagen fein säuberlich zusammengelegte Leinentücher, darauf ein Flacon und eine Puderdose.
Akribisch rubbelte er sich mit den Tüchern ab und achtete darauf, nicht zu viel von dem Rosenöl, das vermutlich auch für das Badewasser benutzt worden war, aufzutragen.
Wie viel Zeit mochte wohl vergangen sein, seit er in der staubigen Bibliothek der Engelsburg nach Antworten gesucht hatte?
Stunden? Tage? Wochen?
Er glaubte um Jahre gealtert zu sein.
Seine Gedanken schweiften ab, zurück zu Auris. Endlich hatte sie zugegeben, ein Dämon zu sein, doch welchem Rang sie angehörte, war ihm noch immer schleierhaft.
Sie war keines dieser dummen Geschöpfe, die er sonst als Dämonen kannte.
War sie ebenfalls ein Sündenträger? Alles wies darauf hin, schließlich hatte sie Belphegor Bruder genannt.
Und was war mit ihm selbst?
Noch immer glaubte er nicht tot zu sein, dafür hatte er zu sehr um sein Leben gekämpft, genau wie Auris.
Zu stark schmerzten seine Glieder, zu rot war sein Blut.
Nachdem er den Puder aufgetragen hatte, wickelte er sich wieder in sein Laken und sah sich erneut um.
Misstrauisch beäugte er einen Spiegel und bekreuzigte sich intuitiv.
Vor vielen Jahren, zu Zeiten seines Noviziates, hatte er einen ähnlichen Spiegel im Hause eines Alchemisten, eines Häretikers, gesehen.
Glänzende, verlockende Objekte waren überall im Haus des Magiers verteilt, wundervoll, so fremd und so verlockend.
Patrick hatte ihn von einem großen, goldgeränderten Spiegel weggezogen und ihm eindringlich klar gemacht, dass jenes Teufelswerk ihn verzaubern und die Seele rauben könnte.
Zusammen mit Patrick hatte er das Haus des Ketzers ausgeräumt und die unheiligen Gegenstände und magischen, gotteslästerlichen Objekte zerstört.
Nur mühsam widerstand er dem Drang, diesen Spiegel ebenfalls zu zertrümmern.
Flüchtig sah seinem Ebenbild in die grünen Augen.
Woher die Falten um seine Augen plötzlich kamen, ob vom Erlebten oder den dämonischen Kräften des Objekts, wusste er nicht zu sagen.
Mit um die Hüften geschlungenem Tuch betrat er das kleine Schlafzimmer, fand auf Anhieb seine Soutane und zog sie rasch über.
Nicht, bevor er sich vergewissert hatte, dass die Türen fest geschlossen waren.
Zufrieden strich er den schwarzen Stoff ab und schnüffelte kurz an seinem Ärmel, der intensiv nach Seifenkrautwurzel roch.
Mit mulmigen Gefühl im Bauch fragte er sich, wie lange ihn Auris wohl beobachtet hatte. Was hatte sie in der Zeit getan, in der er geschlafen hatte?
Er schüttelte den Kopf, um die lästigen Gedanken zu vertreiben.
„Ich dachte schon, Morpheus hätte Euch entführt“, brummte Auris, als er die Türe öffnete.
Verblüfft rieb sich Marcus die Augen; hatte er in einer kleinen Kammer mit grob geschliffenen Felswänden geschlafen, so bemerkte er erst jetzt, dass sich diese Kammer in einem Palast befand.
Ihm bot sich ein atemberaubender Anblick. Der Raum vor ihm war groß genug um die Sixtinische Kapelle in sich unter zu bringen, und ganz aus weißem Marmor.
Gold und Stuck wohin er auch sah, fein geschnörkelte Kunstwerke aus Meisterhand, detailverliebt und mit größter Sorgfalt gefertigt.
Staundend durchquerte er den Raum, hielt hier um einen goldenen Apfel zu berühren, dort um das Bild eines anmutigen Hirsches genauer anzusehen.
Kopfschüttelnd ging er auf Auris zu, die an einem großen, üppig gedeckten Tisch in der Mitte des Raumes saß und selig kaute.
„Ich habe schon angefangen, Marcus. Ich hoffe, es stört Euch nicht“, brachte sie zwischen zwei Bissen heraus und sah zufrieden auf ein großes Stück Fleisch, das sie in bloßen Händen hielt.
Mit offenem Mund starrte der Priester auf ein großes, goldbraun gebratenes Schwein, von dem er einige Sekunden lang glaubte, dass es zurück starrte.
Sein Blick wanderte weiter zu mehren großen Stücken Fleisch, vielleicht Rind, von denen Auris sich vier auf den silbernen Teller geladen hatte, nebst gebratenen Pilzen, Bohnen von Speck umhüllt, Käse, Weintrauben und anderen kulinarischen Leckereien, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
Mit den Fingerspitzen strich Marcus unbewusst über den Marmortisch, weiter auf Auris starrend, die mit großen Schlucken den Weinkrug vor sich leerte.
„Habt Ihr keinen Hunger?“, fragte sie und lud sich ein Stück Käse, das scheinbar nur die Ummantelung einer fremdartigen Spezialität war, auf den Teller.
Fahrig nickte Marcus und setzte sich wie in Trance dem Dämon gegenüber.
Nach mehreren Minuten, die er damit verbracht hatte weiter zu starren, bemerkte er, dass Auris aufgestanden und neben ihn getreten war.
„Was?“, fragte sie gedehnt und wedelte mit einem silbernen Löffel.
„Ich weiß nicht“, nuschelte er verlegen, „das ist so – viel!“
„Hm. Probiert von allem etwas.“
Sie nahm seinen Teller und fing an, von allem, was auf dem Tisch stand, etwas drauf zu schaufeln, während Marcus die Stirn runzelte.
„Auris? Kann man das -“
„Ja, man kann das essen“, unterbrach sie ihn.
Höflichkeit war scheinbar etwas, das Dämonen vollkommen fremd war, dachte er und brummte: „Ihr sagtet, ich solle Euch nicht vertrauen.“
Sie stockte und schmunzelte. „Marcus, Ihr mögt mir gegenüber noch so misstrauisch sein, doch wenn es um Essen geht, könnt Ihr mir vertrauen. Schon in den ersten Tagen auf der Erde habe ich die Vorzüge von Nahrungsmitteln kennen gelernt.“
„Welche Nahrungsmittel?“, fragte Marcus neugierig und hoffte, dass Auris weiter reden würde.
Zu sagen er wäre neugierig mehr über sie zu erfahren, war eine glatte Untertreibung. Begierig sog er jede noch so kleine Information auf.
„Ein Apfel. Ein gewöhnlicher Apfel. Ich hatte zuvor noch nie etwas gegessen und es war, auch wenn es sich für Euch als Mensch dumm anhören mag, eine prägende Erfahrung. Dieser süße, fruchtige Geschmack.“
Der Priester stockte, überlegte und fragte schließlich leise: „Ein Apfel? Vom Baum der Erkenntnis?“
„Unsinn“, lachte sie, „den hat es nie gegeben. Gut und Böse waren von der Schöpfung vorhergesehen.“
„Was meint Ihr?“, fragte er und hörte selbst, dass seine Stimme unnatürlich hoch und hohl klang.
Sie stellte den randvoll gefüllten Teller vor ihm ab, umrundete den Tisch und setzt sich wieder.
Mit nachdenklichem Ausdruck sah sie ihn an, während er seinen laut knurrenden Magen ignorierte.
„Die alte Leier, Marcus. Ohne Licht kein Schatten, ohne gut kein böse. Wäre nur das Gute geschaffen worden, wäre es nichts gewesen, weil es keinen Gegensatz gegeben hätte. Es hätte sich nicht entfalten und entwickeln können.“
„Davon habe ich schon gelesen“, gestand Marcus leise und schob sich eine Weintraube in den Mund, „in panethistischen Schriften steht geschrieben, dass die Naturgesetze, das duale System an sich, das Leben und das Sein erst ermöglichen.“
Auris nickte und betrachtete mit kritischem Blick eine Karotte, legte sie aber wieder zur Seite.
„Der Panethismus kommt nah an die Wahrheit. Aber er spiegelt nicht die ganze Wahrheit wieder. Saytan, der, den ihr Teufel nennt, wurde von Ihm geschaffen, so wie alle anderen auch. Er und sein Bruder Saraph waren die Ersten Schöpfungen.“
„Lucifer?“, fragte Marcus überrascht. „Ihr kennt ihn?“
„Dummkopf“, erwiderte der Dämon trocken und seufzte, „natürlich kenne ihn. Ich kenne sie alle. Nennt ihn wie Ihr wollt, Lucifer, Teufel, es ist ihm egal und mir ebenso. Nein, haltet den Mund und lasst mich aussprechen!
Er schuf zwei völlig identische Geschöpfe, die selben Voraussetzungen, das selbe Grundwesen.
Die Schöpfung bestand aus Gleichnissen, Er schuf alle aus sich selbst und keiner war allein.
Doch Ihm war klar, schon bei der Schöpfung, dass Ihn einer verlassen und zur Dunkelheit werden würde.
Aus diesen Gleichnissen entwickelten sich Gegensätze. Hinter jedem Lichtwesen steht ein Gegenspieler, sein Gegensatz.
Irgendwann musste es zum Krieg kommen, das wusste Er. Darauf was alles ausgelegt.“
Fasziniert hörte Marcus Auris zu und vergaß erneut das Essen. Zu sehr kreisten seine Gedanken um das Gehörte, wie auch um das, was die Kurie verbreitete.
Er verglich die Informationen, wägte ab, überlegte und doch sperrte sich sein Geist. Was immer der Dämon versuchte ihm einzuflüstern, es war nicht die Wahrheit, nicht Gottes Sein.
Er wollte und konnte ihren Worten nicht glauben; und dennoch hörte er tief in seinem Inneren eine leise, hämische Stimme, die ihm sagte, dass alle Zweifel die er je an Gott hatte gerechtfertigt waren.
Dass sein Leben eine Lüge war.
„Dann ist Er also die Dunkelheit? Gott?“
„Nein“, sie lachte, „nein. Er ist mehr. Er ist alles. Ihr, ich, dieser Raum, diese Welt. Er sieht mich durch Eure Augen, Euch durch meine. Er erlebt alles was wir erleben, lacht und weint mit uns.
Versucht es nicht zu verstehen, Marcus, selbst ich kann es nur schwer begreifen.“
Einige Minuten schwieg der Priester, klaubte erneut eine Traube vom reich gedeckten Teller und kaute nachdenklich.
„In den Schriften stand, dass es keine Sünde vor Gott gibt“, murmelte er und bekam nur ein undeutbares Brummen als Antwort.
„Dann ist das die Wahrheit?“, fragte er leise.
„Jein“, sie seufzte und lehnte sich zurück, „die absolute Wahrheit kann ich nicht definieren.
Sünden, verwerfliche Schandtaten, sind real – so real wie Ihr und ich. Doch was Sünde ist und was eine Tugend, das definiert die Gesellschaft und jeder Mensch für sich selbst.
Gewisse Handlungen werden als Sünden abgetan, weil sonst ein Zusammenleben der Menschen, sogar eine friedliche Koexistenz, nicht möglich wäre.
Und, ja. Das sind Sünden. Auch vor Gott. Wie ich Euch bereits sagte, Er erlebt die Welt zusammen mit den Menschen. Was Ihr einem Mensch antut, das tut Ihr auch Ihm an.“
„Oh.“ Marcus’ Augen weiteten sich, als er begriff. „Aber dann heißt das, dass Er die Taten, die wir begehen, mit uns begeht?“
„Ja.“ Ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ihr scheint langsam zu verstehen.“
„Ich verstehe, dass ich nichts verstehe“, murmelte er und fuhr sich fahrig über das Gesicht, „warum das alles? Warum leben wir? Sind wir nur ein Spielzeug für Ihn?“
„Vielleicht.“ Sie lächelte vage. „Ich werde Euch nicht vorschreiben, was Ihr zu denken und zu glauben habt. Glaubt was Ihr wollt, denkt was Ihr wollt. Er hat euch dieses Leben gegeben, lebt es – in welchem Glauben auch immer.“
„Aber was ist das Leben mit diesem Wissen wert?“
„Fragt nicht einen Dämon nach dem Wert des Lebens.
Ihr lebt, Marcus, weil Ihr ein Teil der Welt seid. Ein Teil der Schöpfung. Warum, kann ich Euch nicht sagen, das müsst Ihr selbst heraus finden.
Jeder Mensch, jedes Tier hat sein eigenes Schicksal, seine Bestimmung. Alles hat einen Grund, auch wenn Ihr ihn nicht sehen könnt, so ist er doch da. Und Ihr seid wichtig, Marcus.“
„Für Gott oder für Euch?“, fragte er bitter. „Versteht mich, Auris. Ihr habt mir gerade gesagt, dass das, an das ich so lange geglaubt habe, falsch ist. Dass mein Leben aus einer Laune heraus entstand und ich nichts weiter bin als ein Spielzeug.“
„Das habe ich nie gesagt.“ Sie schmunzelte. „Ihr seid für mich wichtig, das gebe ich zu. Doch ich kann Euch zu nichts zwingen, genauso wenig wie Er. Ihr Menschen tragt sowohl das Gute als auch das Böse in euch. Und dazwischen die absolute Entscheidungsfreiheit.
Es ist ein Geschenk, Marcus. Sowohl das Leben als auch die Freiheit zu entscheiden.
Er gab euch dieses Leben und dazu die freie Wahl zwischen gut und böse. Anders als Saraph und Saytan könnt ihr euch sicher sein, dass ihr allein die Seite wählt.“
„Welche Seite ist die Eure?“, fragte er nach kurzem Schweigen. „Was seid ihr?“
„Satt“, erwiderte Auris und strich sich lächelnd über schwarzen Stoff, der sich über den sichtbar vollen Bauch straffte. „Esst, soviel Ihr wollt und wartet hier auf mich. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen.“
Marcus biss sich auf die Lippe, schluckte zahllose Fragen herunter und sah zu, wie Auris aufstand und ihm den Rücken zukehrte.
„Was wird mich erwarten?“, fragte er, bevor ihn doch der Mut verließ.
„Hm.“ Sie blieb stehen, drehte sich um und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Das müsst Ihr mir sagen. Noch sechs Reiche liegen vor uns, sechs Sündenträger erwarten Euch. Welche fürchtet ihr?“
„Alle“, murmelte Marcus und fuhr sich fahrig mit der Hand über das Gesicht. „Wenn ich überall derartige Prüfungen bestehen muss, wie Belphegor sie für mich ausgewählt hat – ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Nicht nur Prüfungen warten auf Euch“, erwiderte sie nachdenklich, „Belphegor konnte Euch nicht viel anhaben. Ihr wart nie sonderlich träge oder faul. Doch die anderen Sündenträger werden Euch gegenüber nicht machtlos sein. Sie werden Euch Eure Fehler vor Augen führen, Euch leiden lassen und sich daran erfreuen.“
„War ich ein derart schlechter Mensch?“, fragte er mir rauer Stimme und nickte fahrig. „Ich war kein guter Mensch. Ich dachte immer, die Kurie würde mich vor meinen Sünden schützen, dabei habe ich wohl oft vergessen, dass die Kurie nicht unser Schöpfer ist.“
Auris nickte wortlos, drehte sich um und verließ den Raum.
Der Priester blieb allein zurück und hing seinen Gedanken nach.
Im Geiste ging er die Sünden durch, denen er sich schuldig gemacht hatte und kam zu dem erschreckenden Ergebnis, dass er nichts in seinem Leben ausgelassen hatte.
Ereignisse traten ihm vor Augen, bei denen er sich selbst mit zornig roten Kopf sah, er sah sich bei ausschweifenden Banketten der Kurie und schielte auf den reich gedeckten Tisch, nebst seinem vollen Silberteller.
Er schob den Teller von sich weg und beschloss, dass er keinen Hunger mehr hatte.
Wie oft war er habgierig gewesen, sei es nur bezogen auf die Anerkennung seines Vorgesetzen, um schneller einen höheren Stand zu erreichen als seine Mitbrüder.
Neidisch hatte er seine Kollegen betrachtet, die ihm vorgezogen wurden oder interessantere, bessere Aufträge bekamen als er selbst.
Hochmütig hatte er herabgeblickt auf Heiden und Häretiker, die täglich eine Sünde begingen und nicht an Gott glaubten oder sogar zu falschen Göttern beteten.
Nur Wolllust konnte er sich nicht vorwerfen. Seit Jahren schon nicht mehr. Doch in der hintersten Ecke seiner Erinnerung regte sich etwas. Etwas, das er seit Jahren zu vergessen versuchte.
Unwillig schüttelte er den Kopf und stand langsam auf.
Es gab kein Entkommen, das wusste Marcus. Der einzige Weg, der ihn aus der Hölle führte war, dem Dämon Auris zu folgen. Die Flucht nach vorn.
Als er durch die Türe trat, durch die er vor nicht einmal einer Stunde den Saal betreten hatte, erstarrte er mitten in der Bewegung.
Eisiger Wind peitschte ihm unbarmherzig ins Gesicht, während Schneeflocken seine Sicht eingrenzten.
Erschrocken fuhr er herum, als die Tür hinter ihm zuknallte und musste tatenlos mit ansehen, wie sie verschwand.
Er brummte frustriert, fluchte leise vor sich hin und kniff die Augen zusammen.
Vor ihm erstreckte sich eine winterliche Landschaft, kahl und verschneit.
Seine Soutane war nicht auf Winter ausgelegt, schon nach ein paar Minuten fror es ihn erbärmlich.
Er beschloss die Umgebung zu erkunden, eine dumme Idee, wie er wusste, doch herumstehen und erfrieren konnte er auch noch später.
Mit verschränkten Armen stapfte er los.
Schon bald waren seine Schuhe völlig durchnässt, seine Füße selbst fühlten sich an wie Eisklötze und waren kurz darauf völlig taub.
Zitternd blieb er stehen, wandte sich nach links, wandte sich nach rechts und seufzte frustriert.
Wenn er nicht schon tot war, würde er sicherlich erfrieren.
Eine Bewegung, die er aus dem Augenwinkel sah, ließ ihn herum fahren.
Nichts.
Weiße, kalte Winterlandschaft.
Plötzlich sah er in einiger Entfernung etwas oder jemanden laufen, als wäre der Teufel selbst hinter ihm her.
Stirnrunzelnd überlegte Marcus hier zu warten, zu erfrieren oder demjenigen, wer immer es auch war, zu folgen.
Wenn ein Mensch flüchtete, egal vor was, dann immer in die Nähe anderer Menschen.
Leise fluchend stapfte Marcus weiter.
In den letzten Stunden hatte er mehr geflucht als in seinem ganzen Leben zuvor, doch er hatte gute Gründe dafür.
Noch einmal überdachte er seine Situation: Er war in der Hölle, in eisiger Kälte gefangen und auf sich allein gestellt.
Wo, zur Hölle, war Auris?
„Auris?“, rief er und fing an zu husten, als er die kalte Luft tief einatmete.
„Auris? Verdammt! Wo bist du? Auris!“
Noch bevor der Tumult losbrach wusste Marcus, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Man stellte sich nicht einfach in die Hölle, brüllt darauf los und hofft auf eine positive Reaktion.
Die Reaktion in diesem Falle waren einige Köpfe, die hinter einem Hügel erschienen und Marcus entgegen starrten.
Im ersten Moment freute er sich, Menschen zu sehen, bis er bemerkte, dass die Gruppe, die auf ihn zugerannt kam, keineswegs freundlich aussah.
Mager und abgekämpft, mit zerrissenen, schmutzigen Fetzen am Leib und mordlüsternem Glitzern in den Augen bahnten sie sich ihren Weg durch den Schnee.
Nur einige Sekunden blieben Marcus zu entscheiden: Fliehen oder stehen bleiben?
Er entschied sich für die erste Möglichkeit und stapfte drauf los.
Im knietiefen Schnee kam er nur mäßig voran, nach einigen Metern keuchte er bereits und bereute erneut, das warme Esszimmer verlassen zu haben.
Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr, allesamt in einer Sprache, die er nicht verstand. Doch nichts davon klang in seinen Ohren freundlich oder gar herzlich.
Er versuchte schneller voran zu kommen, während die Stimmen sich ihm unaufhörlich näherten.
Der Schnee wurde tiefer, die gefrorene Schicht aus Eis, auf dem der Schnee lag, war halsbrecherisch glatt und er wusste, sollte er stürzen, würde er unweigerlich in die Hände der irre schreienden Meute fallen.
Wer auch immer diese Wilden waren, woher sie auch kommen mochten, seine innere Stimme sagte ihm, dass er sie nicht kennen lernen wollte.
Er verfluchte sich selbst eine xbeliebige Tür in der Hölle – wohlgemerkt der Hölle – geöffnet zu haben und verfluchte Auris für ihr Verschwinden. Nein, für ihr Dasein!
Wo war sie, wenn man sie brauchte? Noch einmal nach ihr zu rufen kam Marcus nicht in den Sinn, zu sehr brannte die kalte Luft in seinen Lungen. Keuchend bahnte er sich seinen Weg, rutschte hier und da mit den nassen Leinenschuhen auf dem Eis, versuchte die Balance zu halten und gleichzeitig voran zu kommen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn einholen würden.
Noch bevor er sich umdrehen konnte, spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf und fiel um.
Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er einen Mann über sich gebeugt, dessen ausgemergeltes Gesicht zu einer Fratze verzerrt war.
Der Mann holte mit einem Stock aus, Marcus wollte schreien, doch kein Laut entwich mehr seiner Kehle.
Langsam lichtete sich die Dunkelheit, der Schmerz kam zurück, ein dumpfes Pochen, das durch zunehmenden Schwindel verstärkt wurde.
Es war kalt, fast eisig, doch windstill. Geräusche drangen an sein Ohr: Flüsternde Menschen, das Schreien eines Kindes, knisterndes Feuer.
Und irgendetwas in seiner Nähe stank erbärmlich. Der Geruch erinnerte ihn an die Kerker des Klerus, ebenso wie an die Hexenverbrennungen, denen er hatte beiwohnen müssen.
Er würgte trocken und versuchte sich an die Kehle zu greifen. Vergebens.
Rauhe Fesseln schnitten in sein Fleisch und zwangen ihn dazu, still zu verharren. Vorsichtig öffnete er ein Auge.
Etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen, auch wenn Marcus sich wunderte nicht in einem Verlies oder Kerker erwacht zu sein.
Die Seile waren aus Hanf oder etwas ähnlichem, kein Eisen, doch so fest, dass sie ihm die Blutzufuhr in die Arme und Beine abschnitten.
Mit dem Rücken saß er gegen die Wand einer Ecke gelehnt und hatte fast den ganzen Raum im Blick.
Verschwommen sah er graue Wände, davor ein Feuer, um das mehrere dürre Gestalten saßen. Er drehte seinen Kopf leicht, so dass er keine Aufmerksamkeit erregte und öffnete das zweite Auge einen Spalt.
Noch mehr Gestalten, verwahrlost und zerzaust.
Einige abgemagerte Frauen, Männer mit verwilderten Bärten, doch keine Kinder.
Marcus unterdrückte ein erleichtertes Seufzen; zumindest keine Kinder.
Doch er hatte ein Baby schreien hören, da war er sich sicher.
Eingehend musterte er die Fremden; unter den einfachen Leinenhemden zeichneten sich hervorstehende Schulterknochen ab, schmale Arme, die Marcus an die dürren Äste toter Bäume erinnerten, hingen kraftlos an ihrer Seite herunter.
Die dreckverkrusteten Gesichter waren eingefallen, hin und wieder, wenn einer der Fremden zu ihm sah, erkannte er blanken Wahnsinn in den blutunterlaufenen Augen.
Er erschauderte, als einer der Kreaturen, er wagte es nicht sie Menschen zu nennen, auf ihn zukam und in einer fremden Sprache mit den anderen Wesen sprach.
Es war für ihn nicht einmal ansatzweise zu bestimmen, welche Sprache die Geschöpfe untereinander nutzten, sprach Marcus selbst doch nur Latein und Italienisch. Und keines der Worte konnte er nur annähernd einem von beiden zuordnen.
Plötzlich wurde sein Kopf gepackt und grob herum gerissen.
Mit geröteten Augen starrte ihn eine dieser Kreaturen an, sagte etwas zu den anderen, worauf hin diese lachten.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte der Priester und hoffte, die Fremden würden ihn verstehen.
Was er mit einer Konversation bezwecken wollte, war ihm selbst nicht klar. Es war nur ein verzweifelter Versuch, sich aus dieser Situation heraus reden zu können, ob mit einem Appell an das Gewissen, oder einem Hinweis auf seinen priesterlichen Stand.
Doch als sein Gegenüber den Kopf schüttelte, erneut lachte und Marcus eine saftige Ohrfeige verpasste, war ihm klar, dass er ein Problem hatte.
Seine Wange brannte heiß, ekliger, fauliger Geruch, der von der Kreatur ausging, ließ ihn würgen und von dem Rauch im Raum tränten ihm die Augen.
Die anderen Kreaturen lachten ebenfalls; gehässig, unnatürlich fröhlich wie es ihm schien.
Während sich der Fremde wieder von ihm entfernte, fing ein Baby im Nebenraum an zu schreien.
Neugierig verdrehte Marcus den Kopf, sah mit tränenverschleiertem Blick, wie der Fremde, der ihn geschlagen hatte, den Nebenraum betrat.
Die Schatten an der Wand ließen Marcus miterleben was geschah.
Auf dem Tisch lag ein Kind, schreiend, weinend. Es zappelte und seine Stimme überschlug sich, als der Fremde sich über es beugte.
Woher der Stock kam, vermochte Marcus nicht zu sagen, doch schon als er ihn in den Händen der Silhouette sah, war ihm klar, was die Kreatur vorhatte.
„Nein, nein! NEIN!“
Marcus schrie, als der Fremde mit dem Stock weit ausholte und schloss die Augen.
Einige Sekunden übertönte sein Schrei den des Kindes, bis er ein für ihn unvergessliches dumpfes Geräusch hörte und das Kind aufhörte zu schreien.
Mit fest zusammen gekniffenen Augen wurde er von Weinkrämpfen gebeutelt.
Hätte er gekonnt, hätte er sich die Ohren zugehalten, als er hörte, wie etwas über den hölzernen Tisch gezogen wurde, wie die Kreatur den Nebenraum verließ und an ihm vorbei schlurfte.
Keine Sekunde öffnete er die Augen, denn er wusste, welch grauenvoller Anblick ihn erwarten würde.
Wie lange er so dasaß, zusammengekauert und still weinend, wusste er nicht.
Er roch verbranntes Fleisch, hörte die Kreaturen laut reden, lachen und irgendwann schmatzen.
So gut es ging rollte er sich in seiner Ecke zusammen, drehte seinen Kopf in Richtung der Wand und versuchte die Schreckensbilder, die vor seinem inneren Auge aufstiegen, zu verdrängen.
Gelähmt vor Schock war er zu keinem klaren Gedanken fähig. Innerlich gab er Auris die Schuld an dieser Situation, aber auch sich selbst und der Kurie.
Hätte die Kurie ihn nicht zu diesem Weibsstück geschickt, wäre er sich nie in diese Situation geraten.
Und hätte er selbst nur ein wenig mehr Mut gehabt, ein wenig mehr Kraft, hätte er sie getötet.
Es wäre nicht sein erster Mord gewesen.
Langsam trat der Gedanke an Flucht in den Vordergrund.
Was er erwartete, wusste er nicht, doch dies hier war die Hölle. Und er konnte sich ausmalen, dass sich die Kreaturen nicht über seine Anwesenheit, sondern nur über sein saftiges Fleisch gefreut hatten.
Hier galten andere Regeln als in seiner Welt.
Andere Regeln.
Er stockte.
Auris suchte ihn vermutlich schon, doch warum war sie noch nicht bei ihm?
„Auris“, flüsterte er zu sich selbst und konzentrierte sich mit der völlig irrationalen Hoffnung, sie würde ihn hören.
Die Geräusche um ihn herum verstummten schlagartig.
Nur noch das leise Knistern des Feuers war zu hören, doch noch wagte er nicht sich umzudrehen.
Er hörte Schritte, langsam, gemächlich, von schweren Stiefeln wie von einem Reiter oder Krieger.
Jemand kam näher, jemand, der den Kreaturen Angst machte. Er hörte sie leise und ängstlich wimmern.
Bei jedem Schritt zuckte der Priester zusammen, in banger Erwartung, von dem Sündträger dieses Reiches in Fetzen gerissen zu werden.
Zwar wusste Marcus nicht, in welchem Reich er gefangen gehalten wurde, doch schauerliche Gedanken von monströsen Dämonen ließen ihn erzittern.
Unnatürlich laut klangen die Schritte in den Ohren des Priesters, das rythmische Klopfen machte ihn fast wahnsinnig. Kurz bevor er glaubte, die Nerven vollends zu verlieren, verstummten die Schritte.
Hinter sich hörte er Kleidung rascheln, dann ein synchrones Knacken, als wenn jemand in die Knie gehen würde.
„Ihr habt mich gerufen?“
Vorsichtig öffnete Marcus ein Auge, drehte sich leicht nach links und spähte über seine Schulter. Vor ihm saß Auris uns sah ihm aufmerksam, fast belustigt entgegen.
Einige Sekunden überlegte er, ob er aufspringen, sich auf sie werfen und erwürgen sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder; ein länglicher Dolch, der in einer Halterung ihres breiten Ledergürtels hin, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Marcus ahnte, dass Auris mit der tödlichen Waffe umzugehen wusste und dass sie keine Sekunde zögern würde, sie gegen ihn zu verwenden.
Die Fesseln fielen wie von Zauberhand von ihm ab, vorsichtig bewegte Marcus seine Beine und Arme, bevor er sich wieder zu Auris wandte.
Er nickte ihr vage zu und presste die Lippen aufeinander, als sein Blick zu dem Lagerfeuer in der Höhle abglitt. Auf einem Spieß über der noch rauchenden Kohle waren Reste eines kleinen Skelettes zu erkennen.
Dahinter, an die Höhlenwand gedrückt und ängstlich zu ihnen herüber starrend, die Kreaturen.
„Sie haben ein Kind getötet“, flüsterte Marcus stockend und spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen.
Er schniefte laut, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zeigte auf die verängstigten Kindsmörder.
„Steht auf“, sagte Auris, nachdem sie einen Blick über die Schulter geworfen hatte und sich wieder aufrichtete.
Wie Marcus vermutet hatte, hatte der Dämon die verkohlte priesterliche Robe abgelegt. Sie trug schwere Kampfstiefel und eine einfache schwarze Robe, wie es sonst bei Mönchen üblich war.
Er schob sich die Wand hoch, zitterte ob des Entsetzens und der Kälte.
Den Blick hielt er weiterhin auf Auris gerichtet, hätte er zu den Kreaturen gesehen, hätte er vielleicht Mitleid mit den traurigen, abgemagerten Gestalten bekommen.
Doch er wollte sie hassen. Inbrünstig hassen.
Er wünschte ihnen nichts sehnlicher als die ewige Verdammnis.
„Kindsmörder, sagtet Ihr?“, fragte Auris und sah ihn nachdenklich an.
„Ja, sie haben es -“, er schluckte hart und schloss die Augen. Das Geräusch, als dieses Monster mit dem Knüppel auf das Kind eingeschlagen hatte, würde er nie vergessen.
„Sie haben es erschlagen und dann – dann haben sie es...“
Er verstummte und zeigte auf den rauchenden Ascheberg in der Mitte der Höhle.
„Verstehe“, erwiderte der Dämon gedehnt und schüttelte den Kopf, bevor sie sich umdrehte und ihm bedeutete, ihr zu folgen.
„Auris! Wir können nicht einfach gehen!“, ereiferte sich Marcus sofort, schoss vor und hielt sie an ihrem Arm fest.
Sie versteifte sich, im selben Moment wusste der Priester, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Plötzlich fühlte er etwas Kaltes an seinem Hals, kälter als jeder Stahl es sein könnte.
„Ihr wollt Rache? Schön. Dann nehmt sie“, zischte Auris und drückte ihm den Dolch, den sie ihm Sekunden zuvor an den Hals gehalten hatte, in die Hand.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn, so heißt es doch!“
„Aber...“
Die Waffe in seiner Hand wog schwer. Erst jetzt erkannte er, dass nicht die Halterung schwarz war, sondern der Dolch selbst.
Die lange, gebogene Klinge erinnerte ihn in seiner Form an eine arabische Waffe. Woraus sie gearbeitet war, wusste Marcus nicht; es war kein ihm bekanntes Metall.
Mit dem Daumen strich er über den Griff und fühlte, wie der Dolch zitterte.
Der erste Impuls war die Waffe fallen zu lassen, doch Marcus umklammerte den Griff fester als zuvor.
Das weiche Leder, mit dem der Griff umhüllt war, war warm und irgendetwas ging von der Waffe aus, das dem Priester die Angst nahm.
Und die Zweifel.
Marcus drehte sich um, weg von dem Dämon, der ihn mit einem herablassenden Lächeln beobachtete, hin zu den Kreaturen und ging langsam auf sie zu.
Sein Kopf fühlte sich schwer an, bleiern, als würde etwas oder jemand die Kontrolle übernehmen.
Nur ein Gedanke, der daran, alle in diesem Raum zu töten, beherrschte seinen Geist.
Als er den Dolch hob, setzte sein Gewissen aus.
Ohne nachzudenken fuhr sein Arm herab, auf eine Frau, die nicht einmal mehr die Zeit hatte zu schreien. Innerhalb eines Wimpernschlages verbrannte sie zu Asche.
Er wandte sich zu einem Mann, nicht der, der das Kind getötet hatte, doch es war Marcus gleich.
Auch er war innerhalb von Sekunden ausgelöscht.
Wie in Trance fuhr immer wieder der Dolch auf und ab, vor und zurück, nicht eine Sekunde wunderte sich Marcus, dass keine der Kreaturen sich wehrte.
Der letzte, der zehnte, war derjenige, der das Kind getötet und der Marcus geschlagen und gedemütigt hatte.
Ohne, dass ihm ein Wort über die Lippen kam, starb auch er.
Eine nie gekannte Macht brachte das Blut des Priesters zum Kochen, als er sich umdrehte und zu Auris sah, hatte sich der Gedanke den Dolch zu behalten bereits gefestigt.
Was auch immer nötig war, er würde diese kraftvolle Waffe nie wieder hergeben.
Langsam ging er auf sie zu, stellte am Rande überrascht fest, dass sie ihn immer noch anlächelte und dachte bei sich, was für ein dummes Weibsbild sie doch war, wenn sie glaubte, er würde ihr den Dolch zurück geben.
In seinen Gedanken war der Dämon bereits nichts weiter als ein Häufchen Asche.
Überrascht riss er die Augen auf, als sie plötzlich vor ihm stand, mit der Hand an seiner Kehle und zudrückte.
Er wollte seine Waffe nutzen, um den Dämon zu vernichten, doch den Dolch hatte sie ihm schon längst aus den Händen geschlagen.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Waffe nah am Feuer lag und die glänzende Oberfläche ihm verlockend entgegen schimmerte.
„In Euch steckt mehr Böses, als ich gedacht hatte“, murmelte sie und sah ihm in die Augen.
So nah wirkte das helle grau beängstigend kalt auf ihn.
Mit beiden Händen umklammerte er Auris’ Arm, während sie ihn immer noch am Hals gepackt hielt und zudrückte.
Er röchelte, wollte zuschlagen und wusste im selben Moment, dass es nichts bringen würde.
„Ihr solltet Euch beruhigen, Marcus. Wenn ich Euch noch länger festhalten muss, werde ich Euch erwürgen“, sie stockte kurz und lächelte noch ein wenig breiter. „Nicht, dass es um Euch schade wäre. Ihr hattet vor mich zu vernichten, nicht wahr? Vielleicht seid Ihr dümmer, als ich gedacht hatte.“
Erst jetzt wurde ihm klar, was er getan hatte.
Mit einem Mal kam ihm seine Rache nicht mehr so gerecht vor wie noch vor ein paar Minuten.
Er hatte keine Kreaturen vernichtet, er hatte menschliche Seelen ausgelöscht.
Eine Sünde, schwerer und schlimmer, als jede andere es je sein könnte.
Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er die Seelen ins ewige Vergessen geschickt, ohne dass sie jemals wieder die Chance bekamen, ihre Sünden zu bereuen.
Wie schon in der Vergangenheit hatte er sich von seinen niedersten Instinkten führen lassen.
Das Bild von einem blutgetränkten Bettlaken schwebte ihm plötzlich vor Augen, ein Gesicht ängstlich verzerrt, ein Körper am Boden mit einem roten Kranz um den Kopf.
Unter das Röcheln mischten sich gequälte Schluchzer.
„Marcus, fangt nicht schon wieder damit an.
Ihr habt die Seelen nicht ausgelöscht. Dazu habt Ihr keine Macht. Nicht einmal mit dem Dolch“, sagte sie und ließ ihn los.
Überrascht schrie der Priester auf, fiel rückwärts und knallte hart auf den Boden.
Er rang nach Luft, hielt mit einer Hand die schmerzende Stelle am Hals und starrte Auris an, die zu ihm hinab sah, als wäre er ein Stück Dreck.
„Haltet den Mund und folgt mir“, sagte sie, während sie den Dolch aufhob und auf den Ausgang zuhielt.
Er rappelte sich schnellstmöglich auf und stürzte Auris hinterher. Keine Sekunde länger wollte er allein an diesem Ort verbringen.
Noch einmal wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, rieb seine Augen und schniefte, bevor er vor die Höhle trat.
Augenblicklich peitschte ihm eisiger Wind ins Gesicht, er fror erbärmlich und ahnte, dass seine Lippen bereits blau waren.
Draußen erwartete ein Anblick, der ihn die Kälte einen Moment vergessen ließ: so weit er blicken konnte erstreckten sich Berge, die mit Löchern förmlich übersät waren. Auch er war aus einer dieser unzähligen Berghöhlen getreten und kombinierte, dass dies wohl die Behausung der hier vor sich hin vegetierenden Seelen darstellen sollte.
Die Gegend erschien ihm verlassen, doch er ahnte, dass Auris der Grund für die gespenstische Stille war.
„Wisst Ihr, wo ihr hier seid?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Marcus musste nicht lange überlegen. Mit zittriger antworte er: „Maßlosigkeit.“
„Richtig. Die Seelen hier müssen verzichten, auf alles, das im Leben Freude bereitet“, sie deutete zum Himmel, „bis hin zur Sonne. Hier regieren Kälte, Hunger und Leid.“
„Das ist grausam“, erwiderte Marcus gepresst, während er versuchte, das Zittern zu unterdrücken.
„Es ist die Hölle, Marcus, begreift es endlich.“
Sie schlenderte weiter und redete, ohne auf ihn oder seinen Zustand zu achten.
„Keiner hier hat in seinem Leben auch nur einmal daran gedacht, anderen etwas zu geben. Selbstsucht kennt keine Grenzen, ebenso wenig wie das Leid, das sie hier ertragen müssen.“
Ungläubig schüttelte Marcus den Kopf. „Und das Baby? Es hatte noch nicht einmal die Chance selbstsüchtig zu sein!“
Sie blieb aprupt stehen. „Wartet hier.“
Mit schnellen Schritten betrat sie eine der Höhlen, die für den Priester aussah wie jede andere auch.
Nach nicht einmal einer Minute kehrte sie zurück, in ihren Armen ein schreiendes Bündel.
Marcus’ Herz zog sich zusammen, er ging ihr wankend entgegen und streckte seine Hand nach dem in braunen Stoff gewickelten Kind aus.
„Fasst es nicht an!“, zischte Auris und ging einen Schritt zurück.
Erschrocken zog der Priester seine Hand zurück.
„Macht die Augen auf, Marcus! Seht es Euch genau an“, sagte sie und hielt das Baby von sich gestreckt.
Die kleine Hand mit den winzigen Fingern grabschte ins Leere, während das runzlige Gesicht von der Anstrengung rot glühte.
„Seht nicht das Kind an, seht was dahinter ist“, sagte der Dämon leise, „Ihr glaubt ein Neugeborenes zu sehen, ein menschliches Kind, doch hier ist kein Platz für Menschenkinder, Marcus. Seht hin, seht genau hin.“
Erneut lag sein Augenmerk auf dem Baby, das sich langsam, unter seinem entsetzten Blick, zu verändern begann.
Das Gesicht wurde runzliger, die Haut rötete sich und die kleinen Hände wurden zu Krallen.
Auch das Schreien veränderte sich – und wurde zu einem schrillen Pfeifen.
Als Marcus das letzte Mal hinsah, zog das Wesen in Auris Armen eine hässliche Fratze und sah ihm mit gelben, bösartig glühenden Augen entgegen.
Kopfschüttelnd wandte sich der Priester ab und ging weiter.
Hinter ihm hörte er, wie etwas in den Schnee klatschte.
„Warum das alles?“, fragte er in die Stille und blieb stehen, ohne sich umzudrehen. „Warum?“
„Hier ist nichts, wie es scheint. Das Neugeborne, das Ihr glaubt gesehen und gehört zu haben, war ein Dämon.
Manchmal finden die Seelen hier kleine Dämonen und nehmen sie mit. Sie sehen sie nicht als das, was sie sind, sondern wie du als Babys.
Und was mit ihnen geschieht, habt Ihr selbst gesehen.“
„Aber warum?“, schrie der Priester und fuhr herum, „wo liegt der Sinn?“
„Sinn? Ihr sucht einen Sinn im Grauen der Hölle?“, sie lachte, „Der Sinn ist, dass die Seelen, nachdem sie begreifen, was sie getan haben, einen weiteren Teil von sich selbst verlieren. Ihren Verstand. Was wiederum dem Sündenträger und seinen Dämonen Freude bereitet. Leid ist hier Freude, das ist der Sinn.“
„Aber sie haben Hunger“, sagte Marcus mehr zu sich selbst, „sie haben doch nur Hunger...“
„Nein, sie spüren keinen Hunger. Sie spüren nicht einmal die Kälte, um genau zu sein. Solche Empfindungen enden mit dem Tod“, belehrte Auris ihn und ging weiter, „doch noch immer sind sie maßlos und glauben essen zu müssen. Sie glauben Hunger zu haben. Bedenke, Marcus: Die Hölle wird geprägt von dem was die Menschen glauben. Glaube ist stark, er ist das was hier zählt.“
Er nickte und folgte ihr, obwohl er kaum mehr Schritt halten konnte. „Und die, die ich... die... ich angegriffen habe? Was hat dieser Dolch mit mir gemacht?“
„Die Seelen werden sich regenerieren – vielleicht. Oder weiter vor sich hinvegetieren, was sie auch vorher schon getan haben. Sie hatten die Hoffnung, dass Ihr ihnen den Schmerz nehmt, doch dazu seid Ihr nicht imstande.“
„Und der Dolch?“, bohrte er weiter. „Irgendetwas ist mit mir geschehen.“
„Der Dolch ist ein Erbstück“, erwiderte sie kurz angebunden.
„Wie meint Ihr...“ Irritiert blieb Marcus stehen, als er gegen ein Tisch stieß, den er Sekunden zuvor noch nicht wahrgenommen hatte.
„Was zum...“
Auf dem so plötzlich erschienen Tisch thronte ein gebratenes Schwein, fett und köstlich glänzte es und wirkte absolut fehl am Platz.
Der Dämon umrundete ohne das Schwein aus den Augen zu lassen den Tisch und nahm sich ein Messer.
Stirnrunzelnd besah der Priester das Schwein und erschrak fürchterlich, als es plötzlich die Lider aufschlug und ihm mit gelben, wachen Augen entgegen sah.
Auris rammte das Messer in die hintere Backe, was das Schwein missfallend grunzen ließ.
Sie steckte ein Stück Fleisch in den Mund und verzog angewiderte das Gesicht: „Teufel, Beelzebub, ich hatte ganz vergessen, dass du nach faulen Eiern schmeckst.“
Auris spuckte das Stück Fleisch angewidert in den Schnee, der darunter sofort zischend schmolz.
„Das Schwein?“, murmelte er geschockt, „ist es das Selbe, wie heute Morgen?“
Auris nickte und besah skeptisch das Schwein. „Ihr habt ihn nicht angerührt, das war Euer Glück, Marcus. Zwei Trauben habt Ihr gegessen, nicht mehr. Er hat genau darauf geachtet – und war sehr enttäuscht. Nicht wahr?“
Grinsend schnitt sie dem Schwein ein Ohr ab, das daraufhin erbost quiekte.
„Er kann Euch nicht hier halten, Ihr habt Euch seiner Sünde nicht schuldig gemacht“, sagte sie und sprach in das abgeschnittene Ohr, „tut mir leid, Bruder. Ich fürchte, du hast versagt.“
Auch das Ohr landete ihm Schnee und verschwand zischend.
„Lasst uns gehen, Marcus“, sagte sie, rammte dem Schwein das Messer in den Rücken und deutete auf einen Höhleneingang, der im Gegensatz zu den anderen schwach von innen heraus leuchtete.
Unter erbostem, hysterischen Quieken seitens des Schweins machte sie kehrt und ging auf den Höhleneingang zu.
Schnellen Schrittes folgte Marcus dem Dämon und warf noch einen letzten Blick zu dem Schwein, das ihnen gehässig hinterher starrte.
„Auris?“
„Hm?“
„Also war das alles nicht echt?“
„Ihr sprecht von dem, was Ihr gefühlt habt“, sagte sie und blieb stehen, um ihm in die Augen zu sehen. „Das war echt. Der Hass. Die Mordlust. Alles. Das, was ihr gefühlt habt, ist ein Teil von Euch.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte er sofort und stutzte, als sie anfing zu lachen.
„Ihr habt gelernt, sehr gut.“
„Nein“, murmelte er, „ich verstehe immer noch nichts.“
Er biss sich auf die Lippe. „Was würde ich sehen, wenn ich Euch ansehe wie das Kind?“
Sie schmunzelte und zuckte die Schultern. „Warum wagt Ihr es nicht einfach?“
Er schwieg, worauf hin sie ihn abschätzig von der Seite ansah. „Ihr habt Angst. Verstehe.“
Marcus widersprach nicht, sondern folgte ihr schweigend. Er hatte bereits versucht, ihre wahre Gestalt zu sehen, in dem Moment, als sich das Gesicht des Kindes zu einer Fratze verzogen hatte.
Doch dann hatte er Angst bekommen und sich von ihr abgewandt. Noch war er nicht bereit dafür.
Am Höhleneingang angekommen, blieb Auris stehen und sah ihn einige Sekunden schweigend an.
„Was ich Euch noch sagen wollte...“
Müde sah er auf und wartete auf neue erleuchtende Worte, die er nicht verstehen würde.
Sie beugte sich vor, legte ihre Hände auf seine Schultern und zog ihn näher.
Als ihr Atem sein Ohr streifte, fiel alle Kälte von ihm ab. Er glaubte innerlich zu verbrennen.
„Tote frieren nicht, Marcus.“
Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimmst.
Dante Alighieri, (1265 - 1321), italienischer Dichter
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